„Memories of Summer“
Autorin: Janna Ruth
248 Seiten / eBook
ISBN: 9783969810040
Verlag: Moon Notes (Imprint der Oetinger Verlagsgruppe)

Wer bist du ohne Vergangenheit? Mika spendet regelmäßig seine Kindheitserinnerungen im NEURO-Institut. Denn was ist schon dabei?

Er hilft mit der Spende bei der Behandlung von Depressionen und kann sich mit dem Geld dafür die neusten Gadgets leisten. Doch dann tritt Lynn in sein Leben, die ihn besser zu kennen scheint als er sich selbst, und plötzlich wünscht Mika sich, der könnte sich wieder an sie erinnern. Als dann noch sein Leben gänzlich aus den Fugen gerät, braucht er seine Erinnerungen mehr denn je und will sie zurückholen. Doch er stößt auf Hindernisse. Auf Ungereimtheiten. Und auf menschliche Abgründe. Zum Glück hat er Lynn an seiner Seite. Lynn, die so zart und zerbrechlich ist und soviel mehr kann, als sie sich selbst zutraut. Seine Vergangenheit mag Mika vielleicht nie wieder bekommen, aber die Zukunft ist noch nicht verloren.

Experiment Zukunft: eine spannende Future-Romance über Glück und die Macht der Erinnerungen.

Dieses Jahr scheint ein Jahr der Leseüberraschungen zu sein. Erst reißen mich Bücher aus meiner Leseflaute, die ich eigentlich nur gelesen habe, weil man sie mir geschickt hat und ich dachte „ach ja, warum nicht?“ und dann sind diese Bücher für mich völlige Überraschungen und begeistern mich auf eine Weise, wie es wenige Bücher können. Als Nebeneffekt habe ich dabei auch noch online super sympathische Menschen hinter diesen Werken entdeckt, wofür ich wahnsinnig dankbar bin. Dann fiel die Entscheidung, meine DSFP-Jurypause zu beenden und wieder mit voll einzusteigen. Der Lesestapel ist natürlich riesig und bisher war nix dabei, das mich vom Hocker gerissen hätte. Und dann flattert „Memories of Summer“ auf diesen Stapel und ich denke mir wieder, „ach, das spricht mich so gar nicht an, das lese ich dann mal“ und schwups, Leseüberraschung.

Aber von vorn: Wäre mir dieses Buch in freier Buchhandlungswildbahn begegnet, hätte ich es wahrscheinlich ignoriert. Cover bunt, keine Raumschiffe, nix, das auf Scifi schließen lässt. Klappentext klingt irgendwie nach Dystopie mit zwei Teenagerprotagonisten und erster Liebe und das ist ja mal alles so gar nicht meins. Dabei könnte ich mir jedoch vorstellen, dass Titel und Cover mich wenigstens veranlasst hätten, es neugierig in die Hand zu nehmen, wäre es in der Science Fiction-Abteilung gestanden, denn beides passt so gar nicht zu dem, was man bei Science Fiction erwartet.

Die ersten Seiten zogen mich dann doch recht schnell ins Buch und ich mochte es kaum aus der Hand legen. Dabei dachte ich mir jedes Mal wieder, wie oft ich mich doch mit totalem Tunnelblick durch meine Lesewelt in diesem Genre bewege.

Sprachlich ist es einfach toll. Die Seiten fliegen nur so dahin, obwohl eigentlich so gar nichts passiert, das man erwarten würde. Keine Action, kein überzogenes Drama. Und doch…die ruhige Erzählweise hält meine Aufmerksamkeit. Kein Anflug von Querlesen.

Ich gehöre zu den Schnelllesern, aber dieses Buch habe ich bewusst genossen. Zeile für Zeile.

Mika klingt wie ein typischer Teenager. Genervt davon, dass seine Familie nicht unbedingt viel Geld hat. Gezielte Interessen in der Schule und vage Pläne für seine Zukunft. Bisschen Geld nebenbei verdienen, damit man bei den neuesten Technikspielsachen voll dabei ist. Und wie sollte es dann anders sein, dass er sich sein Taschengeld nicht durch harte Arbeit sondern durch Memospenden aufbessert, die offenbar ziemlich gut bezahlt werden. Er ist noch nicht 18, darf aber offenbar seit seinem 16. Lebensjahr spenden. Die Moral dahinter ist für mich eher erschreckend. Kann ein Mensch mit 16 denn schon einschätzen, wie einschneidend so etwas sein könnte? Die Antwort darauf ist Lynn. Ja, kann man. Lynn und Mika begegnen sich im NEURO-Institut. Beide kennen sich eigentlich seit frühester Kindheit, nur Mika erinnert sich nicht mehr daran – immerhin sind diese Erinnerungen ja gespendet. Lynn selbst kommt zwar aus reichem Hause, leidet aber an Depressionen und hat ein extrem schlechtes Selbstwertgefühl, was von ihren Eltern herrührt. Manchmal frage ich mich echt, ob sich Menschen bewusst sind, was für eine Scheiße sie ihren Kindern fürs Leben so mitgeben und wie verletzend Dinge sein können. Meine Mutter war immer auf Diät. Fazit sind zwei Töchter mit gestörtem Essverhalten und sehr schlechtem eigenen Körperbild. Verrückt, nicht wahr? Wie schwer es ist, aus diesen Denkmustern auszubrechen, sehen wir an Lynn immer wieder. Sie leistet tatsächlich sehr viel, betreibt seit Jahren ein Blog, auf dem sie sich kritisch mit Depressionen und dem Thema Memospende auseinandersetzt. Dabei ist sie erfolgreich, sieht diesen Erfolg aber gar nicht, weil ihr gedanklicher Grundmodus auf „Ich bin nichts wert“ programmiert ist.

Mika und Lynn helfen sich quasi gegenseitig mehr, als ihnen bewusst ist. Lynn zeigt Mika, wie wichtig Erinnerungen sind. Mika gibt Lynn die nötige Bestätigung, die sie braucht, aber nur so wahnsinnig schwer annehmen kann.

Hinweis: der nachfolgende Abschnitt kann kleinere Spoiler enthalten, aber nichts zum Ende des Buches!

Autorin Janna Ruth baut in dieser ruhigen Erzählweise eine Welt im Jahre 2043. Ohne jegliche Infodumps erfährt man quasi on the go von der Kluft zwischen arm und reich. Von Mikas hart arbeitenden Eltern, seinen jüngeren Geschwistern und davon, dass quasi nie genügend Geld da ist. Mikas Leben gerät aus den Fugen, als sein Vater seine Lupusdiagnose offenbart. Etwas, das er und Mikas Mutter vor den Kindern geheim gehalten haben. Mir persönlich hat es sehr gefallen, dass hier mal eine andere schlimme Erkrankung als Krebs auf den Tisch kommt. Lupus ist eher unbekannt und doch kenne ich selbst eine Person, die daran leidet (und das nicht zu knapp). Mika lebt bis dahin trotz allem ganz zufrieden vor sich hin und es zieht ihm den Boden unter den Füßen weg. Verzweifelt sucht er nach Möglichkeiten, dass seinem Vater geholfen werden kann. Als er seinen Schulabschluss gemacht hat, sind seine eigenen Zukunftspläne erst einmal vom Tisch und er nimmt mehrere Jobs an, um die Rechnungen und die Medikamente für seinen Vater zu zahlen. Die Zeit, die er mit Lynn verbringen kann, wird weniger. Gleichzeitig hat die EU beschlossen, dass es eine Grenze geben muss, wieviel ein Mensch an Erinnerungen spenden darf. Da Mika regelmäßig in den letzten 2 Jahren gespendet hat, hat er diese Grenze schon längst überschritten und die lukrative Einnahmequelle aus der Memospende bricht für ihn weg.

Spoiler-Ende!

Dass neue und innovative Technologien auch immer das Potential für Missbrauch in sich bergen, ist ja eigentlich nichts Neues. So passiert das natürlich auch mit der Memospende.

Auf der Suche nach einem Weg, Mikas Erinnerungen zurückzubekommen, decken Lynn und Mika einige Dinge auf, die man so nicht erwartet. Dabei gab es zwischendrin einen Punkt, an dem ich dachte, das Buch würde jetzt denselben Fehler machen und sich in sinnlosen Längen verlieren, doch auch da wurde ich eines besseren belehrt. Die Handlung nimmt noch einmal deutlich an Fahrt auf, ich lief auf einem riesigen Hoch mit Mika mit und nicht nur ihm sondern auch mir wurde dann erneut der Boden unter den Füßen weggezogen, als diesem Hoch ein tiefer Fall folgte.

Dabei retten Lynn und Mika nicht die Welt oder die Gesellschaft, aber sie begeben sich in Gefahr, begegnen skrupellosen Menschen und ohne den großen Showdown gekünstelt überzustrapazieren, findet das Buch einen würdigen und sehr befriedigenden Abschluss.

Mir hat wahnsinnig gut gefallen, wie alle Figuren vielschichtig ausgearbeitet waren. Nicht nur Mika und Lynn wuchsen mir mit jeder Zeile mehr ans Herz, sondern auch Mikas Familie.

Mit dem Thema Depressionen wurde sehr einfühlsam umgegangen, direkt am Anfang gibt es einen Hinweis auf triggernde Inhalte mit einem Verweis auf die detaillierteren Hinweise am Ende des Buches. Gleichzeitig ist es aber auch gerade diese Einfühlsamkeit in der Behandlung des Themas, die die geschilderten Dinge für mich nicht triggernd gemacht haben. Das fand ich wirklich sehr gut gemacht. Danke dafür.

Überhaupt gibt es für dieses Buch für mich nur ein Fazit: alles richtig gemacht.

Autorin Janna Ruth hat mit „Memories of Summer“ einen sehr ungewöhnlichen Near Future-Roman auf den Markt gebracht. Ein Buch, von dem ich irgendwie so gar nicht viel erwartet habe und dass mich dann – umso überraschender – total begeistert hat. Nicht nur Neulinge im Scifi-Genre könnten darüber einen Einstieg wagen, sondern auch die „alten Hasen“ werden sehr wahrscheinlich positiv überrascht sein. Von meiner Seite klare Leseempfehlung.


Eine weitere Rezension zu „Memories of Summer“ findet Ihr hier bei Rezensionsnerdista, die das wieder mal viel eloquenter gemacht hat, als ich.

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