
Autor:Innen: Tanja Karmann & Carsten Schmitt
Genre: Horror
Fanzine im Zeitungsstil
2 Ausgaben

Der Totenschein ist ein Fanzine im Zeitungsstil, ein Herzensprojekt von Tanja Karmann und Carsten Schmitt, das mit jeder Ausgabe schaurig-schöne Märchenadaptionen erzählt.
Im Mai 2020 erschien Ausgabe #1 und jetzt im November 2021 erschien Ausgabe #2. Durch eine Ankündigung für eine Lesung bin ich darauf aufmerksam geworden. Die Totenscheinlesung in Saarbrücken konnte ich dank Livestream vom heimischen Sessel aus genießen und bei jedem gekauften Ticket war auch eine Ausgabe des aktuellen Totenscheins enthalten. Ausgabe 1 habe ich mir dann direkt noch mitliefern lassen und ich habe beide mit Genuss gelesen.

Die Ausgaben selbst sind einfach toll aufgemacht. Das beginnt zum einen mit dem sehr ungewöhnlichen Titel „Totenschein“….ist es ein Totenschein, der ausgestellt wurde? Oder ist es der Toten Schein im Sinne von „scheinen“? Vielleicht gibts dazu ja eine ganz einfache Erklärung, aber ich finds simply super passend und ne tolle Idee.
Dann geht es weiter mit der gewählten Titelschrift, die dem ganzen zusammen mit dem leicht vergilbten Touch etwas Altes verleiht und den Totenschein somit zu einem kleinen Hingucker macht.
Und zum guten Schluss etwas, das mir am meisten gefallen hat: beide Geschichten beginnen auf der Titelseite und werden auf den Folgeseiten dann fortgesetzt.
Ausgabe #1 – Geschichte 1:
„Das Mädchen mit den Wahrheitsblättern“ von Carsten Schmitt
Angelehnt an das Märchen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ entführt uns Carsten Schmitt in eine sehr nahe Zukunft ins Café König. Zwei Männer diskutieren darüber, was genau am 31.12.2019 in X eigentlich passiert war. Niemand weiß genaueres. Nur, dass alle Einwohner von X verschwunden waren bis auf ein einzelnes Mädchen. Der Erzähler der Geschichte mischt sich in die Spekulationen der beiden Fremden ein und erzählt ihnen dann die Geschichte.
Was es allerdings dann am Ende mit dem Erzähler genau auf sich hat, das bleibt den Lesenden selbst überlassen.
Sprachlich ist die Geschichte absolut top erzählt und die Atmosphäre nimmt einen völlig ein. Schöne Geschichte.
Ausgabe #1 – Geschichte 2:
„Die drei Blutstropfen“ von Tanja Karmann
Stefanie ist Housesitterin und übernimmt einen Housesittingjob in der Villa des Ehepaares Gersting. Sie freut sich darauf, in diesem Haus zu entspannten und das Home Entertainment System zu nutzen, aber leider sind ihr diese ruhigen Abende nicht vergönnt. Stefanie kann nämlich die Geister verstorbener Menschen sehen. An sich hat sie damit kein Problem. Doch dem Geiste, dem sie in der Geschichte begegnet, scheint ein Fluch auferlegt zu sein. Jeden Abend spielt sich die gleiche Szene ab. Stefanie nimmt sich vor, diesen Fluch zu brechen, um dem Geist zur Ruhe zu verhelfen. Leider hat sie dabei jedoch die Rechnung ohne einen weiteren Geist gemacht, der nichts Gutes im Schilde führt.
Stefanie ist eine sehr sympathische Protagonistin und mit dem großen, leeren Haus und der Geisterbegegnung beschreitet die Autorin bekannte Pfade des Horrorgenres. Trotzdem ist die Geschichte an keiner Stelle langweilig und hat mir einen schönen und sehr angenehmen Gruselschauer beschert.
Desweiteren enthält diese Ausgabe auch Goethes Gedicht „Die Braut von Corinth“ aus dem Jahre 1789 und wer hätte gedacht, dass Goethe derlei düstere Werke verfasst hat. Eigentlich hatte ich sehr viel von ihm gelesen, aber dieses Gedicht war mir komplett neu.
Zudem gibt es eine Suchanzeige der Behörden, die um Hilfe bei der Verbrecherjagd bitten. Diese Anzeige ist eigentlich Werbung für die Anthologie „Der unmögliche Mord“, aber ich persönlich würde mir diese Art von Werbung gern mehr wünschen in der heutigen Zeit.
Lediglich Seite 8, die letzte Seite, lässt mich ratlos zurück. Abgebildet sind Aufnahmen eines Messers mit der Frage „Wer ist Jack?“. Googelt man danach, stößt man auf diverse Möglichkeiten, die aber alle nicht so richtig zu passen scheinen. Vielleicht können uns Tanja und Carsten darüber einmal mehr verraten.
Ausgabe #2 – Geschichte 1
Ein Haus voller Liebe von Tanja Karmann
In dieser Geschichte begegnen wir wieder Stefanie mit der Fähigkeit, Geister zu sehen. Stefanie braucht dringend eine Auszeit vom Housesitting und checkt in einer kleinen Pension ein, die gerade vor einem Jahr eröffnet worden ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass hier Geister rumspuken ist also sehr gering. Natürlich kommt es anders als erwartet und eine Burgruine in der Nähe, der Jungfernturm, beschert Stefanie eine erste Begegnung mit Eindrücken der Vergangenheit.
Die Geschichte dazu lässt sie sich von der Wirtin ihrer Pension erzählen. Eine Geschichte, die augenscheinlich ein Happy End hat.
Natürlich forscht Stefanie weiter und schnell stellt sich heraus, dass das Happy End so gar nicht happy war. Der Weg zu dieser Erkenntnis ist wunderbar gruselig geschrieben. Am Ende verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Geistererlebnis so stark, dass man als Leserin Gegenwart und Vergangenheit direkt miterlebt und keinen Unterschied mehr zwischen beiden ausmachen kann. Wirklich total stark. Ich gestehe, spätestens nach dieser Geschichte bin ich großer Fan von Stefanie und ihren Geistergeschichten und würde mich sehr freuen, wenn es mehr von ihr zu lesen gibt.
Ausgabe #2 – Geschichte 2
Totenpost von Carsten Schmitt
Wusstet Ihr, dass es in Marburg eine Ermittlungsstelle für unzustellbare Post gibt? Nein? Ich wusste das bis zu dieser Geschichte auch nicht. Dort landen alle Briefe und Sendungen, deren Empfänger und Absender nicht zu ermitteln sind. In den ganz schwierigen Fällen dürfen diese Briefe dort dann auch geöffnet werden, um aus dem Inhalt Empfänger oder Absender zu ermitteln. Verrückt, nicht wahr?
Dort landen dann auch bestimmt Briefe, die Menschen an Verstorbene geschrieben haben. Und deswegen gibt es die Geschichte „Totenpost“. Denn in „Totenpost“ geht es genau darum: Briefe an die Toten zuzustellen. Diesen Job macht Protagonistin Nina mit Abteilungsleiterin Frau Ehrlich. Nina ist eine junge Frau und arbeitet als studentische Hilfskraft. Frau Ehrlichs Abteilung, das Verstorbenenpostarchiv, hat sie zwei Wochen nach Antritt ihrer Tätigkeit entdeckt.
Dabei sind nicht alle Empfänger so harmlos, wie man vermutet und das macht es für Nina nicht unbedingt leicht, bestimmte Briefe zuzustellen.
Die Geschichte an sich ist wirklich einfach nur schön. Eine Idee, die einfach sehr schön weitergesponnen wurde. Sprachlich wieder perfekt umgesetzt und mit Nina und Frau Ehrlich haben wir zwei sehr sympathische Figuren, denen man sehr gern folgt. Dabei ist das Ende nochmal ein kleiner Paukenschlag, der einen etwas traurig zurücklässt.
Auch in dieser Ausgabe gibt es wieder ein Gedicht, dieses Mal „Helena“ von Heinrich Heine. Außerdem gibt es einen kleinen Auszug aus Tanja Karmanns Roman „Nachtschreck“, der tatsächlich Lust auf mehr macht. Wenn die beiden Geschichten von Tanja Karmann nur eine kleine Kostprobe ihres Könnens waren, dann bin ich mir sicher, dass der Roman seinem Gruselversprechen durchaus gerecht wird. Er ist jedenfalls direkt auf meiner Wunschliste für Weihnachten gelandet.

Man merkt es dem „Totenschein“ an, dass er ein Herzensprojekt ist und mit viel Liebe zum Detail kreiert wurde. Wer also nicht weiß, was er/sie als nächstes für den stimmungsvollen Herbst lesen soll, kann beruhigt zu diesem Fanzine greifen. Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung dafür und ich hoffe sehr, dass wir im nächsten Jahr mit einer Ausgabe #3 rechnen dürfen.
Vielen Dank für die schöne Besprechung – ich freue mich, dass Stefanie einen neuen Fan hat 🙂