„Wagners Stimme“ von Carsten Schmitt hat den Deutschen Science Fiction Preis 2021 in der Kategorie Beste Kurzgeschichte gewonnen. Ihr könnt sie hier bei TOR Online kostenlos nachlesen.

Lasst uns darüber sprechen. Gelesen hatte ich sie, aber sie bekam Anfang des Jahres eine neue Bedeutung für mich. Animiert durch die Folge im Podcast Buchcasting, wo Yvonne und Dirk über die Geschichte sprechen, möchte ich sie hier nun auch besprechen.

Nicht im Sinne einer Rezension sondern im Sinne von meine persönliche Erfahrung mit Demenz und was diese Kurzgeschichte in mir berührt hat.

Bevor ich jetzt weiterschreibe, fasse ich vielleicht nochmal kurz zusammen, worum es in „Wagners Stimme“ eigentlich geht. Protagonist ist Jens Wagner, der an Alzheimer leidet und der eine Künstliche Intelligenz quasi implantiert bekommt, die ihm so lange als möglich ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen und zwischen Wagner und seinen Angehörigen vermitteln soll. Diese Stimme spricht mit ihm und erinnert ihn an Dinge, gibt kleine Hilfestellungen. Gleichzeitig soll sie soviel wie möglich über Jens Wagner lernen, um seine Gemütszustände erkennen zu können, um eine Brücke zu seinen Angehörigen zu bauen.

Die Idee finde ich brillant.

Springen wir mal kurz zurück zum Anfang des Jahres 2021. Meine Mutter, mittlerweile 81 Jahre alt, wohnt bei mir. Die meisten wissen das, viele wissen es nicht. Wir saßen im Februar diesen Jahres im Marion von Tessin Memory-Zentrum und meine Mutter erhielt die Diagnose Demenz. Eine Mischform aus vaskulärer Demenz (entstanden durch viele kleine Veränderungen und Schädigungen im Gehirn, vor denen kein Mensch im Laufe seines Lebens gefeit ist) und Alzheimer.

Jedes neue Loch in seinem Kopf gibt der Stimme ein wenig mehr Raum. Das sei nicht schlimm, sagen die Ärzte, denn die Stimme und er, das sei praktisch ein und dasselbe.

1. Satz von „Wagners Stimme“

Diese Löcher sind für meine Mutter nicht unbedingt sichtbar. Für mich jedoch schon. Für jeden, der enger mit ihr zu tun hat. Es sind am Anfang die kleinen Dinge: sie vergisst zu trinken. Sie weiß nicht, worum es in der Folge einer Serie, die sie gerade schaut, geht. Sie weiß nicht, welches Jahr wir haben oder welchen Wochentag. Es sei denn, man erinnert sie daran. Es gibt aber auch andere kleine Löcher. Sie stellt dieselbe Frage öfters. In Gesprächen findet sie nicht gleich immer die richtigen Worte. Im Grunde bin ich Wagners Stimme, nur eben nicht für Wagner, sondern für meine Mutter. Ich erinnere sie. Kleine Hilfsmittel erinnern sie.

2015 ist meine Mutter zu mir nach München gezogen. Bis Sommer letzten Jahres hat meine Schwester noch mit in dieser Wohnung gelebt und wir haben uns die Arbeit geteilt. Dann ist meine Schwester aufs Land gezogen und ich kümmere mich jetzt vorerst allein weiter.

Nach der Diagnose Demenz fiel ich erstmal in ein Loch. Ich las alles, was ich dazu finden konnte, informierte mich. Das Marion von Tessin Memory Zentrum lässt einen mit dieser Diagnose nicht allein. Wir bekamen Beratungsangebote und Hilfe. Zudem habe ich das Glück, dass die Deutsche Alzheimergesellschaft eine Geschäftsstelle nur ein paar Minuten von mir entfernt hat. Dort bekam ich noch mehr Hilfe und konnte mich auch mit anderen Angehörigen austauschen. Und glaubt mir, dafür war ich extrem dankbar, denn es verschaffte mir Überblick und Sicherheit.

Denn diese kleinen Löcher in Mutters Kopf sind ausreichend groß, dass sie alleine nicht mehr für sich sorgen kann. Sie erklärten auch, warum sie als ansonsten friedlicher Mensch in manchen Situationen ungeduldig, ruppig und wütend reagierte. Aktuell bekommt sie ein Medikament, das helfen soll, dass sich diese Löcher erstmal nicht vergrößern. Und es wirkt sogar soweit, dass manche Minilöchlein wieder geschlossen erscheinen, denn sie weiß jetzt, worum es in einer Serie geht. Sie kann den Inhalt von Büchern erzählen. Sie erinnert sich daran, dass sie immer dienstags in eine spezielle Tagesstätte für Menschen mit beginnender Demenz geht, damit ich mal 6 Stunden für mich habe (auch wenn ich diese 6 Stunden im Home Office arbeite, es ist eine Entlastung). Sie erinnert sich auch, dass wir einen Literaturkreis haben, den wir einmal im Monat besuchen oder einen Handarbeitsarbeitstreff.

Herr Wagner hat das Gefühl, er fliege mit solchem Tempo durch sein Leben, dass der Fahrtwind ihm die Luft abschnürt.

„Wagners Stimme“

In der Geschichte werden Wagners Erinnerungen und Gefühle durch die KI analysiert anhand von Fotos aus seinem Leben. Die Abfolge der Bilder ist dabei so schnell, dass Wagner gefühlt gar nicht dazu kommt, eine emotionale Reaktion zu zeigen, jedoch so von Emotionen überwältigt wird, dass es ihm die Luft abschnürt. Aber warum ist es so wichtig, dass der emotionale Zustand erkannt wird? Menschen mit Demenz erreichen unter Umständen ein Stadium der Krankheit, in dem für Außenstehende die emotionale Lage der Person nicht mehr erkennbar sind und die sie allein mit Sprache nicht mehr ausdrücken können. Als ich meine Mutter ein paar Wochen nach der Diagnose fragte, wie es ihr mit der Diagnose ginge, zuckte sie erstmal sehr verdrossen mit den Schultern. Es dauerte etwas, bis sie darüber sprach. „Ich weiß jetzt, was Du gemeint hast, wenn Du gesagt hast, dass ich das und das doch schon gemacht habe. Ich habs dann einfach nur vergessen.“ Sie saß in den Tagen danach oft da und hat einfach nur in die Luft gestarrt. Wenn ich sie fragte, ob alles in Ordnung sei, sagte sie nur ja. Man steht dann etwas hilflos da und fragt sich, ob man alles richtig macht, oder ob man etwas falsch gemacht hat. Einfache Dinge werden plötzlich schwerer sie zu akzeptieren. Da, wo man bei einem gesunden Menschen einfach das „ich hab einen schlechten Tag“ akzeptiert, hinterfragt man das bei einem Menschen mit Demenz immer wieder.

Das Gefühl, dass die Krankheit die Luft abschnürt, hatte also auch ich in gewisser Weise. Auch das hat sich gebessert. Ich weiß, was so auf mich zukommen kann und ich weiß auch, dass es das nicht muss. Meine Mutter und ich leben im Jetzt.

Dirk spricht im Podcast eine Sache an, dass Wagner in der Geschichte als friedlicher Mensch erscheint, dann jedoch in einer Situation total ausrastet und aggressiv wird. Das ist definitiv ein Symptom der Erkrankung. So schlimm ist es bei meiner Mutter nicht, aber eine leichte Aggressivität kommt bei ihr in bestimmten Situationen durch. Dann ist sie auch total fixiert auf diese Sache, okay, meistens sind es Personen, die sie total wütend macht. Dann ist das plötzlich vorbei und dann ist es ihr peinlich.

Was mich an der Geschichte so tief berührt hat ist, dass Wagners Stimme jede Person ist, die einen nahen Angehörigen pflegt. Jede Person, die diese kleinen Hilfestellungen im Alltag leistet, den Kühlschrank zeigt, an die offene Flasche Wein erinnert (in der Geschichte war es eine offene Dose Katzenfutter), ans Essen und Trinken erinnert und auch dafür sorgt, dass gegessen und getrunken wird. Die ans Duschen erinnert und dabei hilft.

Aber seien wir ehrlich, nicht jeder Mensch hat so eine Person in seinem Leben. In Wagners Geschichte ist es eine KI, weil die Wagners Beziehung zu Tochter Marlene zerrüttet ist. Die Gründe dafür mögen sehr vielfältig sein. Es wird nicht genauer erklärt, WARUM es schon vor dem Tod von Wagners Frau Funkstille zwischen Tochter und Familie gab. In der Geschichte jedenfalls erklärt es, warum Wagner von einer KI und später im Pflegeheim Hilfe erhält, statt von seiner Tochter.

Menschen sind verschieden. Kinder werden erwachsen und werden eigene Persönlichkeiten, die nicht zwingend ein gutes Verhältnis zu den Eltern haben müssen. Das ist einfach so und hat wahnsinnig viele Gründe. Es ist immer einfach, das damit abzutun, dass sich heute doch keiner mehr um seine Eltern kümmern will. Gleichzeitig jedoch ist es selbst, wenn man das will, nicht unbedingt einfach. Man muss es auch wirklich können. Es kostet extrem viel Geduld und Verständnis und Akzeptanz. Akzeptanz, dass dieser Mensch, der Dich aufgezogen und beschützt hat, der immer für Dich da war, das plötzlich nicht mehr sein kann. Akzeptanz, dass dieser Mensch sich verändert und anders ist, als Du ihn kanntest. In meinen Augen ist diese Akzeptanz die allergrößte Hürde, die es zu überwinden gilt. Deswegen wohnt meine Schwester auch nicht mehr hier. Deswegen mache ich das und nicht sie. Mir scheint es leichter zu fallen. Ich habe wohl ein Händchen dafür. Aber es ist so und ich käme nie auf die Idee, das meiner Schwester vorzuhalten, denn ich weiß, wie schwer es ihr fällt, unsere Mutter so zu erleben und gleichzeitig all diese Gefühle unter einen Hut zu bringen, die dabei entstehen: Wut, Trauer, Scham, Schuld. Das kann nicht jeder und das muss man auch genauso akzeptieren. Und manche Menschen haben auch keine Kinder, die sich im Falle eines Falles kümmern könnten.

Und das finde ich an dieser Geschichte so schön. Die KI in „Wagners Stimme“ ermöglicht Jens Wagner ein selbstbestimmtes Leben, ohne dabei körperlichen und psychischen Grenzen unterworfen zu sein, wie wir Menschen es sind. Sich um einen demenzkranken Menschen zu kümmern, geht an die Substanz, körperlich und emotional. Mich hat es Ende April erstmal so richtig aus den Latschen geworfen, dass der Rettungsdienst kommen musste. Ich musste für mich hier auch erstmal erkennen, wo meine Baustellen sind. Ich habe ein Coaching gemacht, um mit negativen Gefühlen umgehen zu lernen, denn die gibt es. Ich habe gelernt, dass ich mir Freiräume schaffen muss und auch völlig zurecht darf. Diese habe ich durch die Tagesstätte einmal in der Woche und alle 8 Wochen für 2 Wochen, wenn meine Mutter zu meiner Schwester aufs Land gefahren wird. Eine KI hat diese Beschränkungen nicht. Eine KI ermöglicht es der demenzkranken Person, weiter zu leben und für sich zu sorgen, solange das möglich ist und bei diesen kleinen Löchern im Gehirn am Anfang zu helfen.

»Was ist das?«
Jemand ruft dich an.
»Wer denn?«
Marlene. Deine Tochter.
»O, das ist schön. Ich glaube, ich habe schon lange nichts mehr von meiner Tochter gehört.«
Herr Wagner bleibt sitzen. Er handelt nicht, ohne dass die Stimme ihn dazu ermuntert. Sie beobachtet und analysiert, registriert achtundzwanzig verschiedene Gesichtsmuskelbewegungen, vierzehn unterschiedliche Arten den Kopf zu halten, elf diskrete Augenbewegungen und achtundzwanzig weitere Regungen von Kopf und Mimik. Das Ergebnis steht im Widerspruch zu ihren erlernten Mustern und kollidiert mit ihren Regeln darüber, was es heißt, Jens Wagner zu sein. Sie muss eine Entscheidung treffen, muss sie so treffen wie er, sie, es tun würde.

„Wagners Stimme“

Das Ende zeigt Jens Wagner in einem sehr, sehr fortgeschrittenen Stadium der Krankheit. Er freut sich, als seine Tochter anruft, aber er geht nicht von allein ran, weil er das nicht mehr kann. Dass die KI in diesem Moment eine Entscheidung treffen muss, überfordert sie zuerst.

Marlenes unbeantwortete Anrufe ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Jens Wagner nimmt keinen ihrer Anrufe entgegen. Zu tief sitzt seine Wut.

Das sind die Situationen, in denen er noch weiß, wer sie ist und warum er wütend ist. Die Momente, in denen er sich mit ihr noch aussprechen könnte. Und sie verstreichen bis zu diesem Moment am Ende der Geschichte, als er nicht mehr weiß, dass er überhaupt eine Tochter hat.

Das wirkt wahnsinnig traurig und hat mich auch extrem tief berührt, aber es hat doch auch etwas versöhnliches und schönes, denn obwohl er nicht mehr weiß, wer Marlene ist, geschweige denn, warum er auf sie wütend ist, so zählt in diesem Moment nur die Freude über ihren Anruf. Die Freude, die für die KI im Gegensatz zu dem steht, was sie in der Zeit über Wagner gelernt hatte. Sie erkennt seine Freude, aber sie passt eigentlich nicht zu Wagners Reaktionen in der vergangenen Zeit. Und hier trifft die KI eine Entscheidung basierend auf dem jetzigen Zustand. Basierend auf der Freude des Moments. Denn wenn es mal soweit ist, dann lebt man mit Demenz im Moment und alles andere ist nicht mehr wichtig.

Für mich hat „Wagners Stimme“ Grund für Hoffnung, denn wer weiß, welche Möglichkeiten es in der Zukunft geben wird. Das ist das Schöne an der Science Fiction. Sie mag oftmals düster sein, aber sie kann auch einfach nur Hoffnung geben und Möglichkeiten aufzeigen, die es vielleicht irgendwann einfach mal geben könnte.

Bis dahin werde ich weiter Wagners Mutters Stimme sein, ihre Momente mit ihr genießen und hoffen, dass vielleicht jemand irgendwann meine Stimme ist, sollte es dazu kommen.

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