
„Sommer bei Nacht“
Autor: Jan Costin Wagner
320 Seiten / geb. Ausgabe
ISBN: 3869712082
Verlag: Galiani Berlin

Was geschieht, wenn das Unfassbare geschehen ist?
Ein Kind verschwindet. Dabei hat seine Mutter den Jungen nur für wenige Momente aus den Augen gelassen. Die Ermittlungen beginnen und schnell stößt die Polizei auf Verbindungen zu einem weiteren vermissten Jungen. Zum Auftakt seiner neuen Reihe erzählt Krimipreisträger Jan Costin Wagner eine spannungsgeladene Geschichte auf einmalig einfühlsame und literarisch meisterhafte Weise.
Die Ermittler Ben Neven und Christian Sandner machen sich auf die Suche nach dem fünfjährigen Jannis. Zeugen erinnern sich, dass ein Mann mit einem Teddybär auf dem Arm das Kind während des Flohmarkts in der Grundschule angesprochen hat. Schnell wird Ben und Christian klar, dass sich die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten. Und nicht nur das: es scheint einen direkten Zusammenhang mit der nie aufgeklärten Entführung eines weiteren Kindes in Österreich zu geben. Die beiden Polizisten stoßen auf finstere Abgründe.
Jan Costin Wagner verarbeitet gleich mehrere brisante gegenwärtige Themen und rührt dabei tief an in uns allen schlummernden Ängste. Doch das Wagnis gelingt – weil Wagner den Spagat zwischen Empathie und Zurückhaltung beherrscht und literarische Kriminalromane schreibt wie kaum jemand sonst.

Es wird mal wieder Zeit, Rezensionen nachzureichen. Den Anfang macht das Buch „Sommer bei Nacht“ von Jan Costin Wagner, das ich als letztes gelesen habe. Wagners Bücher kannte ich bisher noch nicht, aber in einer der letzten beiden Ausgaben des Zeit Verbrechen Magazins war ein sehr interessantes Interview mit dem Autor. „Sommer bei Nacht“ ist eins unserer Numaku-Bücher, also ein Buch, das beim ‚Nur mal Kucken‘ im Hugendubel gekauft wurde. Ihr kennt das ja.
Es ließ sich sehr schnell lesen, was nicht zuletzt an dem sehr prägnanten knappen Schreibstil lag. Wagner entführt uns ins hier und heute in Wiesbaden. Jannis ist verschwunden. Von jetzt auf gleich. Die Suche läuft auf Hochtouren und irgendwann entdecken die Ermittler eine Verbindung zu einem verschwundenen Jungen in Österreich. Hier verarbeitet der Autor den Fall der Jungen Elias und Mohamed, die 2015 in Potsdam und im Lageso in Berlin-Moabit verschwunden waren, und später tot aufgefunden wurden.
Bei ihren Ermittlungen stoßen Neven und Sandner nach entsprechenden Hinweisen auf den Täter, doch gibt es da noch eine weitere Verknüpfung zu größeren Verbrechen. In dem Teil fließen Elemente aus dem schrecklichen Fall um den Campingplatz in Lüdge ein.
Insgesamt sind die Kriminalfälle eigentlich eher zweitrangig in diesem Buch. Wagner legt sehr viel Wert darauf, seine Figuren zu zeichnen und ihnen Leben einzuhauchen. Ihm gelingt auch etwas unfassbares: einer der Ermittler ist selbst ein Pädophiler. Dabei zeichnet Wagner ganz hervorragend das Bild des Täters, der nicht einer von ‚denen‘ ist sondern ein Mensch, den man kennt und von dem man es nie erwartet hätte. Ein Mensch, der bei Dir oder mir nebenan leben könnte. Der unser Freund, Partner, Bruder, Onkel sein könnte. Schlimm fand ich dabei, dass mir diese Figur so sehr sympathisch war, dass ich hin- und hergerissen war, zwischen Zuneigung und Abscheu. Besonders diese Zerissenheit hat mich als Leser den Zwiespalt fühlen lassen, in dem Menschen stecken, die derlei Dinge an jemandem entdecken, den sie kennen oder vielleicht sogar lieben. Dieses Monster vs. eigentlich ein guter Kerl hat mich persönlich ziemlich mitgenommen und ich denke, genau darin liegt die Stärke dieses Buches.
Seine größte Schwäche hingegen ist jedoch, dass hier wieder dieses Lone Wolf-Verhalten von Ermittlern auftaucht, was mir persönlich zuviel Klischee ist und was ich schon in Filmen und Serien nicht leiden kann.
Alles in allem ist „Sommer bei Nacht“ ein fesselndes Buch, das den Leser alle möglichen widersprüchlichen Gefühle erleben lässt. Da es offenbar der Auftakt einer Reihe ist, werde ich auch den zweiten Band lesen, einfach auch um rauszufinden, wie es mit dem pädophilen Ermittler weitergeht und ob er irgendwann damit konfrontiert wird.

„Sommer bei Nacht“ ist ein lesenswerter Krimi, der sich um das Thema Pädophilie und Kindesmissbrauch dreht. Wer bei diesem Thema sehr empfindsam ist, sollte vorgewarnt sein, dass es keine leichte Kost ist und triggern kann. Für alle anderen trotzdem eine klare Leseempfehlung.
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