„GRM: Brainfuck“
Autorin: Sibylle Berg
633 Seiten / eBook
ISBN: 3462051431
Verlag: Kiepenheuer & Witsch

„Vermutlich war der Einzelne schon immer unwichtig. Es fiel nur weniger auf.“

Die Brave New World findet in wenigen Jahren statt. Vielleicht hat sie auch schon begonnen. Jeden Tag wird ein anderes westliches Land autokratisch. Algorithmen, die den Menschen ersetzen, liegen als Drohung in der Luft. Großbritannien, wo der Kapitalismus einst erfunden wurde, hat ihn inzwischen perfektioniert. Aber vier Kinder spielen da nicht mit – sondern gegen die Regeln. Und das mit aller Konsequenz. Willkommen in der Welt von GRM.

Sibylle Bergs neuer Roman beginnt in Rochdale, UK, wo der Neoliberalismus besonders gründliche Arbeit geleistet hat. Die Helden: vier Kinder, die nichts anderes kennen als die Realität des gescheiterten Staates. Ihr Essen kommt von privaten Hilfswerken, ihre Eltern haben längst aufgegeben. Die Hoffnung, in die sie sich flüchten, ist Grime, kurz GRM. Grime ist die größte musikalische Revolution seit dem Punk. Grime bringt jeden Tag neue YouTube-Stars hervor, Grime liefert immer neue Role-Models.

Als die vier begreifen, dass es zu Hause keine Hoffnung für sie gibt, brechen sie nach London auf. Hier scheint sich das Versprechen der Zukunft eingelöst zu haben. Jeder, der sich einen Registrierungschip einpflanzen lässt, erhält ein wunderbares Grundeinkommen. Die Bevölkerung lebt in einer perfekten Überwachungsdiktatur. Auf der Straße bleibt nur der asoziale, vogelfreie Abschaum zurück. Die vier Kinder aber – die fast keine Kinder mehr sind –, versuchen außerhalb des Systems zu überleben. Sie starten ihre eigene Art der Revolution.

Was.Für.Ein.Buch! Das braucht definitiv ein Content Warning, denn darin kommt so ungefähr alles Schlimme vor, das man sich vorstellen kann, aber besser nicht sollte.

Das Buch hat mich erschlagen. Vollkommen überwältigt mit seiner schonungslosen Sprache. Runterzogen mit seiner Hoffnungslosigkeit. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.

Dieses Buch ist jedenfalls keine leichte Unterhaltungslektüre für den Strand oder einen faulem Samstag auf dem Sofa nach einer anstrengenden Woche. Hätte ich das mal vorher gewusst. Das Buch fühlte sich an wie einen Marathon zu laufen mit einem 100kg Sack auf den Schultern, Bleigewichten an den Beinen und einem Dauerasthamanfall.

Das klingt so negativ, ist aber so gar nicht gemeint. Sibylle Berg, die ich bis dato nur dem Namen nach kannte und von der ich bisher noch nie was gelesen hatte, hat hier 600 Seiten gnadenlose Gesellschaftskritik abgeliefert, die unter die Haut geht. Will man die Handlung zusammenfassen, dann ist das schnell getan: Don, Hannah, Peter und Karen sind vier Kinder, die in ärmsten Verhältnisse in Rochdale aufwachsen, einer kleinen Stadt in England. Ihr Leben ist geprägt von Gewalt, Hunger, emotionaler Vernachlässigung. Sie verlieren auf unterschiedliche Weisen ihr Zuhause und ziehen nach London, wo sie sich in neuen Situationen widerfinden, die aber eigentlich auch nicht soviel anders sind, als vorher. Und dort beginnen sie, sich gegen das System aufzulehnen.

Dieses Buch braucht außerdem ein Content Warning für Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch. Davon gibt es einiges zwischen den Seiten und das geht unter die Haut: Seien es nun Peter und Sergej oder Karen und Patuk. Was da geschildert wird ist schonungslos, knallhart…wie der Rest des Buches. Die eigentlich überschaubare Handlung wird aber von dem ganzen Drumherum erst so richtig in Perspektive gesetzt.

In diesem Buch kommt keiner gut weg. Ich habe einige Rezensionen gelesen, in denen sich darüber beschwert wurde, dass die Autorin das männliche Geschlecht über einen Kamm schert. Ja, tut sie. Warum auch nicht? Schauen wir uns doch nur die Rückschritte an, die wir in den letzten Jahren im Bereich Geschlechtergleichheit hingenommen haben, und schon ist es gar nicht mehr so abwegig, dass sich das Patriarchat genauso stark etabliert, wie es Berg in ihrem Roman zeichnet.

Berg ist schonungslos ehrlich in dem, was sie sagt. Und wäre es kein Zukunftsroman, so könnte man glatt sagen, es wäre aus dem Leben gegriffen. Eigentlich ist es das auch. Nur für die Zukunft noch überspitzter, noch klischeehafter, noch extremer, hoffnungsloser, wütender, hilfloser.

Ich weiß nicht, wie ich es noch anders in Worte fassen soll, deswegen hör ich jetzt mal auf hier.

„GRM: Brainfuck“ von Sibylle Berg ist ein Buch, das sicherlich polarisieren wird. Es wird Dich runterziehen, Dir dann die Hand reichen, Dich hochziehen und dann in Slo-Mo über die Schulter zu Boden werfen, auf Dir rumtrampeln und seine Wut an Dir auslassen. Diese Wut, in der Du Dich selbst an einigen Stellen wiedererkennen wirst. Diese Wut, geboren aus purer Hilf- und Hoffnungslosigkeit. Ganz klare Leseempfehlung versehen mit einem „Mit äußerster Vorsicht zu genießen.“

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