
„Die Siliziuminsel“
Originaltitel: Waste Tide
Autor: Qiufan Chen
369 Seiten / eBook
ISBN: 9783641221829
Verlag: Heyne
[Werbung, da Rezensionsexemplar]

Auf der Siliziuminsel im Südwesten Chinas wird der Elektronikschrott der ganzen Welt recycelt. Inmitten von giftigen Dämpfen und verseuchter Hardware suchen die Müllmenschen nach Verwertbarem. Als eines Tages eine amerikanische Firma die Siliziuminsel modernisieren will, wird das labile Gleichgewicht zwischen den chinesischen Behörden, mächtigen Mafiaclans und internationaler Machtpolitik gestört. Arme und Reiche, Chinesen und Ausländer finden sich in einem Krieg um die letzte Ressource der nahen Zukunft wieder – den Menschen.

Die Siliziuminsel ist gar nicht so sehr Science Fiction wie es eigentlich ein Buch über Klassensysteme, Unterdrückung, verschwenderisches Leben, Geld, Macht und die Umwelt ist. Das Science Fiction zeigt sich hauptsächlich in technischen Gimmicks und kybernetischen Prothesen und Implantaten.
Während der Klappentext bereits vielversprechend klang, wurde mir in diesem Buch wesentlich mehr geboten. Im Nachwort erklärte der Autor seine Inspiration für diese Geschichte und das hatte nach dem Lesen des Romans eine sehr starke Wirkung auf mich. Diese ‚Siliziuminsel‘ gibt es nämlich heute schon. Sie heißt Guiyu und liegt in Chinas Provinz Guangdong. Laut Wikipedia umfasst die Fläche 52 Quadratkilometer und ist damit der weltweit größte Elektronikschrottplatz der Welt. Ich weiß ja nicht, wie es Euch geht, aber das klingt schon mächtig gruselig, nicht wahr? Unsere alten Handys? Laptops? Fernsehgeräte? DVD-Player? Das wird dort alles ‚recycelt‘. Unter unwürdigen Bedingungen. Hey, jetzt können wir hier nicht nur durch Ausbeutung Menschen anderer Länder unserem Konsum so billig wie möglich frönen, nein, auch für die Entsorgung beuten wir Menschen aus. Aber Hauptsache wir können jederzeit das neueste Handy haben. Was sind wir nur für eine kranke, perverse Spezies!
Aber kommen wir mal zurück zum Buch. Wir bekommen mehrere Protagonisten präsentiert: Da ist der Amerikaner Scott Brandle, der auf der Insel als Abgesandter einer großen Firma die Müllentsorgung umweltfreundlicher anbiedern und natürlich dabei ein Geschäft abschließen soll. Dabei versteckt sich hinter Brandle wesentlich mehr, als man anfangs vermuten mag. Neben ihm arbeitet sein Dolmetscher Chen Kaizong, ein Chinese, der in Boston studiert hat. Kaizong schließt Freundschaft mit dem Müllmädchen Mimi, die keinen unwesentlichen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte hat und auch sehr bald mitten im Zentrum der Geschehnisse steht. Wirken sowohl Kaizong als auch Mimi anfangs noch naiv und unbedarft, so zeigen sie doch sehr bald, dass sie nicht zu unterschätzen sind. Besonders anfänglich stehen beide in sehr starkem Kontrast zu den Anführern der Clans und Scott Brandle.
Der Leser bekommt hier eine Menge zum Thema Klassengesellschaft und Unterdrückung präsentiert, gleichzeitig aber auch Erklärungen, warum Dinge so laufen, wie sie laufen und welche Verantwortungen die Clanführer gegenüber jedem noch so weit entfernten Angehörigen ihres Clans spüren. Ich glaube, da werd ich mich selbst noch wesentlich mehr belesen müssen, wie das in diesem Land so läuft. Meine eigene Weltblase ist immer noch viel zu klein.
Die Handlung des Buches ist dabei nicht unbedingt in ein paar Worten zusammengefasst: Die Amerikaner wollen einen Deal aushandeln mit den Clanoberhäuptern, der es ermöglicht, die Recyclingabläufe umweltfreundlicher zu gestalten. Die Clanoberhäupter jedoch haben einerseits auch die Verantwortung gegenüber all den Menschen, die auf der Insel arbeiten. Bedeutet Automatisierung in vielen Bereichen doch oftmals Arbeitslosigkeit. Andererseits sind die Clans natürlich mittlerweile in einer gewissen finanziellen und Machtposition, die sie nicht bereit sind aufzugeben. Gleichzeitig versucht einer der Müllmenschen den grausamen Tod seiner Schwester zu rächen, indem er im Hintergrund wirkt. Die versehentliche Entsorgung von mit einem Virus infizierten Müll sorgt für das Koma eines Jungen und für merkwürdige Superkräfte bei Mimi. Das alles kombiniert mit Mythen, Legenden und einem Schuss Aberglaube. Ein Happy End gibt es nicht. Und auch sonst ist die Geschichte wesentlich komplexer aufgebaut, als ich persönlich anfangs gedacht hatte.
Während sich das erste Drittel des Buches etwas in die Länge zog, konnte mich die Geschichte am Ende in ihren Bann ziehen.

Die Siliziuminsel hat mich wirklich beeindruckt und mit den angesprochenen Themen trifft das Buch aktuell den Nerv der Zeit. Von mir eine klare Leseempfehlung aber auch den Hinweis, dass es nicht unbedingt eine leichte Lektüre für Zwischendurch ist.
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