„Wandernde Himmel“
Autorin: Hao Jingfang
752 Seiten / Taschenbuch
ISBN: 3499274183
Verlag: Rowohlt Polaris
[Werbung da Rezensionsexemplar]

Zwei Gesellschaften und eine große Frage:
Wie wollen wir leben?
2096: Die Erde hat eine Kolonie auf dem Mars gegründet, um neuen Lebensraum zu erschließen. Doch die will unabhängig sein: Während die Mars-Bewohner den Raubtierkapitalismus der Erde verdammen, halten die Erdenmenschen den roten Planeten für ein System unkontrollierter Alleinherrschaft. Zur Verständigung zwischen den Völkern sendet der Mars hundert Jahre später einige Jugendliche auf die Erde – darunter auch die kürzlich verwaiste Luoying, eine Enkelin des Mars-Machthabers. Ihr Bruder bleibt zurück. Fünf lange Jahre dauert es, bis die nun erwachsene Frau den loyalen und erfolgreichen Rudy in der roten Heimat wiedersieht. Die Weltenwanderin Luoying muss sich entscheiden: Für oder gegen das starre System – mit möglicherweise tödlichen Konsequenzen nicht nur für sie selbst.

Anfang des Jahres habe ich Ursula K. LeGuins Freie Geister (The Dispossessed) gelesen, ein Buch, das zu meinen absoluten Favoriten gehört, was das Soft-Scifi angeht. Jedes Mal lässt mich dieser Roman lange Zeit nicht los und das schaffen nur sehr wenige Autoren. Hao Jingfangs Wandernde Himmel spielt thematisch in derselben Liga. Statt wie LeGuin eine anarchistische Gesellschaft einer kapitalistischen Gesellschaft gegenüberzustellen, präsentiert uns Hao Jingfang eine technokratische Welt auf dem Mars. Dabei ist ihre Vision der Entwicklung des Menschen zu so einer Gesellschaft sowie seine Beweggründe dazu absolut nachvollziehbar und logisch.

Auf der Erde herrscht der Kapitalismus vor. Nach einem langen Krieg, der zur Unabhängigkeit des Mars von der Erde und zu einem kalten Krieg führte, gibt es nach Jahrzehnten erste Annäherungsversuche sowie ersten Tauschhandel. Eine Gruppe 13jähriger Schüler wird vom Mars zur Erde entsandt, um dort zu leben. Die Geschichte beginnt bei ihrer Rückkehr zum Mars. Wir folgen der mittlerweile 18jährigen Luoying Sloan zurück auf ihren Heimatplaneten. Der Einstieg ist sanft, beinahe poetisch. Luoying ist die Enkelin von Hans Sloan, dem amtierenden Generalgouverneur in Mars City. Mit ihr reist eine Abgesandtschaft von der Erde, die auf dem Mars Verhandlungen führen soll zum Austausch von Technologien. Ein Mitglied dieser Gesandtschaft ist Igor, ein Filmemacher, der das Vermächtnis seines Lehrers und Mentors mit sich führt. Igors Lehrer war viele Jahre zuvor für lange Zeit auf dem Mars gewesen und dann zur Erde zurückgekehrt mit einer 3D-Holophotographietechnologie im Gepäck. Igors Lehrer starb auf der Erde an Lungenkrebs. So folgen wir also auch Igor, der unzufrieden ist mit den Zuständen im Filmgeschäft auf der Erde und hofft, durch seine Dokumentation der Reise zum Mars ein filmisches Meisterwerk zu erschaffen, dass die Menschen wachrüttelt und ihm die Anerkennung verschafft, die er sich wünscht.

Schön fand ich hier, wie wir Igors Vorurteile, die auch die Vorurteile der Menschen auf der Erde sind, erleben und wie er sich selbst zwingen muss, von diesen unbeeinflusst das Leben auf dem Mars zu betrachten. Kurz gefasst halten die Menschen auf der Erde ihre Nachbarn auf dem Mars für versklafte, technologiehörige Wesen, die unter der Diktatur von Hans Sloan zu leiden haben. Umgekehrt sind die Menschen auf dem Mars überzeugt, dass ihre Gesellschaft die moralisch überlegenere ist, und halten die Menschen auf dem Mars für drogenabhängige, faule, dem Konsum verfallenen Idioten. Dass Vorurteile leicht gefasst sind, darüber ist sich ja in der Regel jeder Mensch im Klaren, aber etwas obektiv und differenziert zu betrachten, das kostet Zeit und Mühe.

Luoying und die anderen Austauschschüler freuen sich auf ihr Zuhause, aber nach 5 Jahren auf der Erde fällt ihnen die Wiedereingliederung sehr schwer. Auf der Erde konnten sie tun und lassen, was sie wollten. Sie konnten reisen, wohin sie wollten und das arbeiten oder lernen, was sie wollten. Auf dem Mars herrscht ein vorgegebenes System. Unterschiedliche Entwicklungszweige haben sich in Studios zusammengefasst, denen man sich je nach seinen eigenen Interessen und Fähigkeiten anschließen kann. Während das Grundeinkommen gesichert ist und jeder dieses Grundeinkommen erhält, ist der Anschluss an ein Studio Voraussetzung dafür, dass man zusätzliches Einkommen erhält. Hierbei konkurrieren die unterschiedlichen Studios um die Projektgelder des Parlaments, die diese Gelder danach verteilen, welches Projekt am nützlichsten für die Entwicklung der Gemeinschaft ist. Das mag auf den ersten Blick paradiesisch wirken, aber durch Luoying und die anderen Figuren merkt man schnell, dass es nicht so einfach ist, wie man meinen mag. Luoying tut sich schwer damit, sich wiedereinzufinden. Während ihrer Zeit auf der Erde war der Mars ihre von Kindheitserinnerungen geprägte Heimat, aber nun, da sie zurück ist, erkennt sie, dass sie so keinen rechten Platz für sich findet. Nur sehr langsam erfährt der Leser, was es mit dem Tod ihrer Eltern auf sich hat. Man folgt Luyoing und ihren Schüleraustauschfreunden durch ihre Gedanken und Gefühle, ihre Haltlosigkeit und ihre Überzeugung, dass sie nur Marionetten sind. Auch die Hintergründe, warum Luoying damals zur Erde geschickt wurde, obwohl sie bei den Prüfungen und im Auswahlverfahren eher mittelmäßig abgeschnitten hatte, bleiben lange im Dunkeln und führen nicht nur den Leser zu den wildesten Spekulationen. Am Ende sind diese Gründe einfach nur menschlicher Natur.

Grundthema des Buches ist nicht nur, wie der Mensch leben will, sondern wie bereits bei LeGuin die Frage nach der Freiheit. Dafür gibt es unterschiedliche Definitionen, die abhängig sind vom Einzelnen und nicht für die Gesamtheit der Menschheit gelten. Für den einen ist es die freie Wahl, was er tun und lassen und wo er leben möchte. Für den anderen ist es die Möglichkeit, sich nicht nur kaputt zu schuften sondern auch seinen Leidenschaften nachzugehen.

„Und was denkst du, wer freier lebt?“
„Ich weiß nicht. Was ist denn die Definition von Freiheit?“

Eine Figur im Buch, Dr. Renny wird dabei eine wichtige Bezugsperson nicht nur für Luoying sondern auch für den Leser. Dr. Renny ist auch die Figur für mich gewesen, der ich mich am meisten verbunden gefühlt habe. Hauptsächlich deswegen, weil ihm die Entscheidungen der ‚Oberen‘ über seine Karriere und seinen Beruf egal waren, solange er seiner wahren Leidenschaft und seinen wahren Interessen folgen konnte.

Luoying sah daran aber die größte Ungerechtigkeit. Ihr und auch ihren Freunden fiel es schwer zu akzeptieren, dass Dr. Renny eine andere Definition von Freiheit hatte als sie selbst.

Er hatte keinen Grund zur Klage, denn wer die Wahl hatte, musste dafür die Verantwortung übernehmen. Freiheit und Einsamkeit gehörten zusammen wie Zwillinge.

Was wirkliche Freiheit ist, das versuchten schon viele Philosophen und Schriftsteller der Vergangenheit zu ergründen. Und auch heute finde ich dieses Thema einfach nur faszinierend.

Hao Jingfang verfolgt diese Frage durch die Augen ihrer Figuren. Dabei erfährt der Leser die Thematik nicht nur durch Luoying und ihre Freunde, sondern auch durch Dr. Renny, Hans Sloan und Rudy Sloan. Die Gesellschaft auf dem Mars ist komplexer, als es die Jugendlichen vermuten. Wie viele Menschen begehen sie den Fehler, vorschnell zu urteilen und aus einzelnen Puzzlestücken ein ganzes Bild zusammensetzen zu wollen. Und auch als Leser ist man davor nicht sicher, denn oftmals vermutet man diese und jene Gründe, wird am Ende aber doch eines besseren belehrt.

Der Roman ist wie bereits die Erzählung Peking falten in einem sehr ruhigen Erzählton gehalten, dem eine Tiefgründigkeit und tiefempfundene Traurigkeit nachschwingen. Es gibt keine Action und keine herausragenden Spannungsmomente. Die Geschichte lebt von der langsamen Enticklung ihrer Figuren und den genauso langsam zu Tage tretenden Ereignissen und Hintergründen. Die Sprache dabei ist schon fast poetisch und einfach nur wunderschön.

Wandernde Himmel ist kein Roman, der sich schnell liest. Man sollte sich diese Zeit auch nehmen, denn die Thematik berührt den interessierten Leser zutiefst. Jedes Mal, wenn ich das Buch zur Seite legen musste, dachte ich trotzdem ständig über das Gelesene nach.

Zur Übersetzung muss ich außerdem sagen, dass sie absolut hervorragend ist. Die Sprache ist einfach wunderschön. Dem Lektorat muss ich ebenfalls mein Lob ausprechen, denn ich bin nicht einem einzigen Fehler begegnet.

Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mir dieses Buch gefallen hat. Wie Freie Geister wird es mich lange nicht loslassen und ein Roman sein, den ich bestimmt noch einige Male lesen werde. Für Leser, die Weltraumabenteuer und eine actionreiche Story suchen, ist Wandernde Himmel sicherlich nicht das Richtige, aber für Leser, die sich gern mit gesellschaftlichen und philosophischen Fragen auseinandersetzen möchten und die auch schon von LeGuins Werken begeistert waren, ist dieses Buch genau das Richtige. Von allen Büchern dieses Jahr ist Wandernde Himmel mein absolutes Lesehighlight gewesen, das locker in der oberen Liga des Soft-Scifi mitspielen kann. Ich muss gestehen, dass ich das nicht erwartet hatte.

Anmerkung: Da es sich bei diesem Buch um ein zur Verfügung gestelltes Rezensionsexemplar handelt, muss ich diesen Beitrag als Werbung kennzeichnen. Ich möchte allerdings versichern, dass die verfasste Rezension meine ehrliche Meinung wiedergibt und nicht von der Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst wurde. Denn ganz ehrlich, Rezensionen hätten keinen Sinn, wenn sie nicht ehrlich wären. Ich möchte dem Rowohlt Verlag meinen größten Dank aussprechen dafür, dass sie mir als Betreiber eines so kleinen Blogs ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt haben. Es war mir das größte Vergnügen, diesen Roman zu lesen. Vielen Dank!

Wandernde Himmel erscheint am 25.09.2018 und ich wünsche diesem Roman eine begeisterte Leserschaft. Ich hoffe, dass noch weitere Werke der Autorin und anderen chinesischen AutorInnen ihren Weg ins Deutsche finden. Die Literaturszene wird meiner Meinung nach davon nur profitieren.

 

7 Kommentare zu „Jingfang, Hao – Wandernde Himmel

  1. Hallo! Das hört sich interessant an ich habe das Buch auch schon mal bei Gabriela gesehen und bin gespannt auf ihre Rezension. Da diese scheinbar weniger positiv ausfallen wird. Ich finde es ja toll wenn Bücher einen spalten 😀 und je nach Lauen mag man mal das eine Buch und mal das andere lieber!

  2. Das klingt wirklich interessant. Ich hatte von dem Buch bisher noch nicht gehört. Allerdings schreckt mich das alter der Protagonisten ein bisschen ab,da ich in letzter Zeit nicht mehr so viel Lust auf Teenagerprotagonisten habe. Geht der Roman da mehr in Teenie oder Adult Sci-Fi Richtung?

    LG
    Elisa

    • Ich würde sagen, dass man es nicht direkt ins YA einordnen kann, sondern definitiv schon Adult SF. Die Perspektiven wechseln sehr häufig und während wir zwar sehr oft durch Luoyings Augen sehen und die ihrer Freunde, so bekommen wir auch trotzdem die Perspektiven von Erwachsenen gezeigt. Liebesmäßig gibt es zwar Andeutungen, wer in wen ‚verknallt‘ ist und auch Luyoings Beziehung zu Ankka ist zwar vorhanden, aber so ganz anders als man es aus westlichen Romanen kennt. Deswegen würde ich sagen, definitiv Adult SF. Und ich lese ja ungern Bücher mit Jugendlichen Protagonisten xD

  3. Huhu!
    Es ist doch wirklich interessant, wie sehr die Meinungen zuweilen auseinander gehen können. Meine Rezension zu Wandernde Himmel wird erst morgen erscheinen, jedoch bin ich leider gar nicht so sehr begeistert gewesen von den Wandernden Himmeln. Das lag gar nicht so sehr an der Geschichte selbst, denn die gefiel mir durchaus gut, aber ich wurde partout nicht warm mit den Figuren und ihren philosophischen Gedanken. Vermutlich war ich dafür einfach die falsche Leserin. Aber das ist gar nicht so schlimm, denn deine Rezension wird genau die richtigen Menschen ansprechen und von diesem Buch überzeugen 🙂

    Liebe Grüße!
    Gabriela

    • Huhu Gabriela,
      normalerweise würde ich mich an einer zu distanzierten Präsentation der Figuren sehr stören, aber zum einen passte hier für mich alles schlüssig zusammen, zum anderen konnte ich zwar keine echten Sympathie aufbringen, aber mich in die Figuren sehr nachvollziehbar einfühlen. Das hat die fehlende Sympathie wieder wettgemacht.

      Bin auf Deine Rezension sehr gespannt.
      LG
      Grit

      • wobei, so ganz gefehlt hat die Sympathie nicht. Ich fand Dr. Renny einfach super sympathisch und mochte ihn echt sehr. Ansonsten war mir auch Pierre sehr sympathisch und auch Igor in gewisser Weise.

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