Olafshausen: Kleinkleinstadt
Olafshausen liegt zwischen Wiesen und Wäldern, ein ganzes Stück außerhalb der Großstadt und noch gut einige Stunden entfernt von jeder nennenswerten Autobahn. Die Olafshausener sind typische Kleinstädter und stolz auf ihren Ort. Hier gibt es nämlich keine Hochhäuser und keine Hektik, wie in der Stadt. Man kennt sich noch und man hilft sich. Aber man tratscht auch darüber, dass Herr Grünstein seine Frau und seinen Sohn einfach verlassen hat, um mit einer kleinen Mamsell aus der Großstadt ein neues Leben anzufangen. Und darüber, dass aus dem Hannes ja gar nichts anständiges werden kann bei so einem Vater. Und hast Du nicht gehört, Frau Grünstein geht es gar nicht gut. Blass ist sie mit dunklen Augenringen. Völlig überfordert mit ihrem Sohn. Der ist aber auch Tunichtgut. Und eine große Klappe hat der vielleicht. Ich verstehe gar nicht, warum die Tochter von Frau Mubara mit dem herumzieht. Der wird das arme Mädel doch komplett verderben. Übrigens, Herr Finkelplautz, der Apotheker, hat ein Auge auf Frau Grünstein geworfen. Ja, wenn ich es doch sage. Und Pfarrer Marius hat sich gestern das Bein gebrochen, als er beim Polieren der Kirchenmauer von der Leiter gefallen ist. Der Arme! Wie gut, dass Frau Doktor Ullmann gleich helfen konnte. Er wird bestimmt bald wieder laufen können. Hast Du schon gehört, dass die hier einen Supermarkt bauen wollen? Ja, wenn ich es doch sage. Gleich vorn neben dem alten Murmelhof. Ich sage Dir, dann ist es vorbei mit der Ruhe in unserem schönen Städtchen. Und wenn dann noch die Leute aus der Stadt herkommen. Doch doch, es hat schon angefangen. Weißt Du denn noch nicht, dass das Haus von Frau Meier – möge sie in Frieden ruhen – verkauft worden ist? Na wenn ich es doch sage. Ein Herr von Gerlingen ist da eingezogen. Götz von Gerlingen. Bestimmt irgendwas adeliges. Aber so wie der sich anzieht und das Auto, das er fährt. Der kommt bestimmt aus der Stadt.
So tuschelten die Olafshausener im Konsum an der Ecke und an Markttagen auf dem Stadtplatz miteinander. Jeder kannte nunmal jeden und über jeden gab es etwas zu erzählen. Und eigentlich, ja eigentlich waren die Olafshausener ganz nette Menschen. Wenn nur die Stadt nicht wäre und diese Städter.
Manche sagen ja, die Uhren würden hier anders ticken, aber eigentlich tickten sie genauso wie überall. Morgens um acht rief der Unterricht nach den Schülern und die Arbeit nach den Erwachsenen. An den Markttagen konnte man von frisch gebackenem Brot, wundervoll verzierten Torten, hausgemachtem Apfelkompott über Emailletöpfe bis zu Stricksocken alles kaufen, was man brauchte. Dabei brüllte keiner der Händler laut herum, wie man es in der Stadt tut. Nein, alles lief gesittet und anständig ab und man gönnte sich den ein oder anderen Plausch.
Und es stimmte schon ein bisschen, dass der Herr Finkelplautz die Frau Grünstein mochte. Immerhin war sie eine sehr belesene und kluge Frau. Ihre Blässe und die Augenringe stammten allerdings nicht daher, dass sie mit Hannes überfordert wäre, seit Herr Grünstein gegangen war. Nein, sie arbeitete viel in der Olafshausener Wäscherei, kochte außerdem noch für die alte Frau Jansen aus dem Haus gegenüber, die bestimmt schon hundert Jahre sein musste, und saß abends oft an der Nähmaschine, um sich noch etwas Geld zusätzlich zu verdienen. Einen elfjährigen Sohn allein zu erziehen war nämlich nicht so einfach, wie manche sich das vorstellten und Geld wuchs ja bekanntlich nicht auf den Bäumen.
Eigentlich war Frau Grünstein froh darüber, dass ihr Mann sie verlassen hatte. Hätte er es nicht getan, hätte sie wohl irgendwann ihre Koffer gepackt und wäre mit Hannes ausgezogen. Herr Grünstein war nicht nur kein guter Ehemann und Vater gewesen, nein, er war auch ein schlechter Mensch und das hatte Frau Grünstein leider erst lange nach ihrer Hochzeit bemerkt. Aber sei’s drum. Er war weg und das war gut so. Hannes kam damit eigentlich auch sehr gut zurecht, hatte sie den Eindruck. Seine Schulnoten waren in Ordnung und er hatte Freunde. Sicherlich gab es mal den einen oder anderen Brief vom Schuldirektor Hase, der Hannes‘ neueste Missetaten rügte, aber Frau Grünstein hatte Herrn Hase schon nicht leiden können, als sie selbst noch Schülerin und er ein einfacher Lehrer gewesen war. Damals wie heute nannten ihn die Schüler hinter vorgehaltener Hand Meister Lampe. Und dieser Spitzname war ihr auch schon das eine oder andere Mal herausgerutscht, obwohl sie doch eigentlich als Erwachsene mit gutem Beispiel vorangehen sollte. Aber alte Gewohnheiten legt man nicht so einfach ab. Dass er so unbeliebt war lag daran, dass er einfach nur unfreundlich war und gern und viel schimpfte. Allgemein galt er als alter, bockiger Junggeselle, dem man nichts recht machen konnte, doch einen anderen Schuldirektor gab es nicht und irgendwer musste das Amt ja schließlich bekleiden.
Pfarrer Marius hingegen, der sich das Bein gebrochen hatte, war bei allen beliebt. Nicht nur bei den gläubigen Kirchgängern sondern auch bei den Olafshausener Atheisten und Anhängern anderer Religionen. Und davon gab es in Olafshausen einige. Natalys Vater, Herr Mubara zum Beispiel, war Moslem. Frau Mubara war orthodoxe Jüdin und da sie und Herr Mubara sich nicht einigen konnten, war Nataly konfessionslos wie die meisten Kinder der Stadt. Entschuldigung, Kleinstadt. Wenn sich Touristen nach Olafshausen verirrten, lernten diese sehr schnell, dass die Stadt eben nicht Olafshausen war. Die Olafshausener mochten die Stadt nicht und legten großen Wert darauf, dass ihr Städtchen eine Kleinstadt war. Bei Gesprächen mit Touristen konnte man drei Ausrufezeichen hinter Kleinstadt regelrecht hören und die Stadt wurde immer so abfällig betont, dass selbst gesprochen die Kursivschrift zu hören war.
Manche Touristen fanden das recht sonderbar, aber an Olafshausen war auch einiges anders als woanders. Die meisten Touristen jedoch liebten die egozentrische Art der Olafshausener und nannten sie liebevoll ’schrullig‘. Dabei war der einzige wirklich schrullige Olafshausener der Herr Käferstein, ein pensionierter Lehrer, der nach Ansicht der jüngeren Generation schon im vorigen Jahrhundert unterrichtet haben musste. Herr Käferstein war beliebt. Beliebt, aber schrullig. Ob es an seinem handgeschnitzten Gehstock lag oder an den bunt karierten Jackets, die sich heftigst mit seinen unterschiedlich farbigen Socken bissen, die unter den viel zu kurzen gestreiften Hosen hervorblitzten, das konnte niemand sagen. Er war schrullig wie alte Menschen nunmal schrullig sind. Sein Gesicht war von tiefen Falten zerfurcht, aber seine Augen blitzten aufmerksam, intelligent und vor allem freundlich zwischen all den Falten hindurch.
Morgens um acht konnte man ihn auf der Bank vor dem Schulhaus sitzen sehen, wo er die Tauben fütterte und sich angeregt mit ihnen unterhielt. Nachmittags stand er am kleinen Teich neben der Kirche und schnatterte mit den Enten. Im Ernst, er schnatterte. Und die Enten schnatterten zurück. Ich sagte ja, schrullig.
Die Touristen lachten jedoch nur darüber und schüttelten ihre Touristenköpfe. Der eine oder andere machte ein Foto von Herr Käferstein. Wahrscheinlich zeigte er es dann nach seiner Rückkehr zu Hause herum und erzählte vom schönen Olafshausen und seinen schrulligen Einwohnern.
So war es nunmal im schönen Olafshausen, das mit seinen alten Häusern, dem kleinen Stadtplatz, dem verwinkelten Schulgebäude mit seinen Türmchen und Erkern und dem mysteriösen Park, in den sich selbst die Touristen nicht reintrauten, ein schönes Fleckchen Erde war. Und die Kirche von Pfarrer Marius, die hatte einen schiefen Turm. Aber das ist Stoff für eine spätere Geschichte.
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