Olafshausen: Vier Freunde

„Ey, habt hier den Neuen gesehen?“ fragte Hannes und schwang sich auf die Rückenlehne der Gartenbank. Nataly, Anjing und Marie ließen sich neben ihm nieder.

„Der schaut komisch aus. Voll die riesige Brille. Ein totaler Blindfisch.“ Hannes riss seine Augen weit auf und starrte die anderen an.

Mit seinen elf Jahren war er größer als die anderen. Sein blondes, strubbeliges Haar stand in wilden Locken von seinem Kopf ab und seine grauen Augen ließen die helle Haut seines Gesichts noch blasser erscheinen.

„Muss merkwürdig sein, in eine neue Schule zu kommen,“ bemerkte Anjing während er in seinem Rucksack kramte.

„Besonders, wenn man direkt hinter dem Klassengroßmaul sitzt,“ grinste Nataly.

„Hey, ich bin kein Großmaul,“ nörgelte Hannes.

„Na von der stillen Sorte biste nicht,“ sagte Marie.

Die vier hatten sich, wie an jedem Schultag, nach Ende des Unterrichts in den kleinen Park neben der Schule verzogen. Die Bäume waren auch nach dem heißen Sommer noch voller Grün und spendeten angenehmen Schatten. Die kleinen Bänke, die andere Spaziergänger eigentlich zum verweilen einladen sollten, standen mit Graffiti beschmiert einsam am Rand des Weges, der sich von der Schule bis zum alten Friedhof schlängelte. Normalerweise verirrte sich sonst niemand hierher. Schon lange wurde der Park nicht mehr gepflegt und nachts traute sich gar niemand hinein. Angeblich spukte es, aber von den vier Freunden wusste keiner so recht, ob da etwas dran war oder nicht. Der Park war ihr kleiner Treffpunkt. Seit der ersten Klasse kamen sie hierher. Anfangs noch zu dritt, weil Hannes von seiner überfürsorglichen Mutter früher jeden Tag nach der Schule abgeholt worden war. Aber seit der Scheidung von Hannes‘ Eltern hatte Frau Grünstein nicht mehr die Zeit dafür gehabt.

Eigentlich waren die vier Freunde auf den ersten Blick normale Kinder. Kinder, wie man sie von nebenan kennt. Kinder, die gern laut schreiend durch die Gegend rennen und Fangen spielen. Ungewöhnlich war ihre Freundschaft trotzdem, denn sie waren alle sehr verschieden. So richtig wusste keiner von ihnen mehr, wie ihre Freundschaft angefangen hatte. Nur, dass sie eines Tages in der Mittagspause zusammen am selben Tisch landeten und dabei feststellten, dass sie die Gesellschaft der anderen genossen. Anjing war einen halben Kopf kleiner als Hannes, hatte kurz geschorenes braunes Haar und braune, schmale Augen, die die Welt aufmerksam betrachteten. Während Hannes groß und etwas pummelig war, war Anjing klein und schmächtig mit schmalen Schultern. Und während Hannes gern, viel und laut redete, sagte Anjing selten etwas.

Nataly hatte schwarzes, langes krauses Haar, das sie mit einem Haarband versuchte zu zähmen und am liebsten unter irgendwelche Mützen stopfte. Ihre hellbraunen Augen, standen in starkem Kontrast zu ihrer dunklen Haut. Eine kleine Narbe zog sich über ihr Kinn, wo sie als Kleinkind einmal auf eine Bordsteinkante gefallen war. Sie trug gern quirlig bunte T-Shirts, die Hannes als ‚Hippie-Nachthemden‘ bezeichnete und ausgeblichene Jeans. Sie hatte eine Vorliebe für dicke Bücher und las alles, was ihr in die Finger kam. Meistens tauschten sie und Anjing untereinander Bücher und diskutierten stundenlang über die Figuren und die Geschichten. Das war auch eine der seltenen Situationen, in denen Anjing mehr als nur ein oder zwei Sätze sprach.

Marie hatte lange rote Haare und ein rundes Gesicht voller Sommersprossen. Ihre grünen Augen strahlten, wenn sie lächelte, was nicht so oft vorkam, wie man sich bei einem elfjährigen Kind wünschen würde und wenn sie nicht ihren weiten, ausgeleierte Parka trug, dann kleidete sie sich in übergroße T-Shirts und Pullis.

Eigentlich fragten sie sich so manches Mal, warum sie Freunde waren. Oder ob ihre Freundschaft so eine echte Freundschaft war, von der man  hörte, die aber irgendwie keiner genau definieren konnte. Sie wussten jedoch, dass sie sich aufeinander verlassen konnten und immer für einander da waren. Und sie konnten sich nicht vorstellen, dass sich jemals etwas daran ändern würde.

„Man verliert sich aus den Augen, wenn man älter wird,“ pflegte Maries Vater zu sagen.

Aber so richtig wussten sie nicht, was das bedeuten sollte. Und eigentlich war es auch egal.

„Und überhaupt, was ist das für ein Name, Ben-Sebastian von Gerlingen,“ tönte Hannes und plusterte sich auf. „Darf ich vorstellen,“ sagte er mit aufgesetzter Schnöselstimme, „von Gerlingen. Ben-Sebastian von Gerlingen.“

„Du hast gut Reden, Herr Hannes Oskar Grünstein,“ neckte Marie.

„Oh, Frau Marie Renate Clauswitz.“ Hannes sprang von der Bank und verbeugte sich. „Zu ihren Diensten, my lady.“

Marie gab ihm geziert die Hand, den kleinen Finger elegant abgespreizt.

„Sehr erfreut,“ sagte sie, reckte die Schultern nach hinten und den Kopf nach oben. „Sogleich sollte der Herr sich wieder setzen.“

Hannes und Marie lachten und klatschten sich ab.

„Warum hängen wir nochmal mit denen rum?“ fragte Nataly Anjing, der die Augen verdrehte und mit den Schultern zuckte.

„Weil ihr genauso einsame Loser seid wie wir. Deswegen“ Hannes sprang zurück auf die Bank, breitete die Arme aus und hob seine Stimme, „Wir sind die einsamen Loser aus Olafshausen und wir kämpfen gegen die Welt.“

 

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