„Wahn“
Autor: Stephen King
896 Seiten / Gebundene Ausgabe
ISBN: 978-3453265851
Verlag: Heyne

Der reiche Bauunternehmer Edgar Freemantle hat bei einem schweren Unfall den rechten Arm eingebüßt und mehrere Knochenbrüche erlitten. Seine Kopfverletzung führt zu Lücken in der Erinnerung, und die Schmerzen treiben ihn in den Wahnsinn. Auf Anraten seines Arztes zieht er sich in ein Strandhaus auf der Florida-Insel Duma Key zurück, um dort Linderung in der Malerei zu finden. Die Insel gehört der alten Dame Elizabeth Eastlake, deren tragische und mysteriöse Familiengeschichte sich Edgar immer mehr erschließt, je mehr er die pittoreske, aber auch unheimliche Szenerie der Insel zeichnet und malt. Seine Bilder entstehen wie im Fieberwahn, und die Insel scheint ein in ihm schlummerndes Talent auf seltsame Weise zu verstärken. Bald wird klar, dass seinen Bildern die unbändige Kraft innewohnt, die Wirklichkeit zu verändern. Als dann auch noch die Geister aus Elizabeths Kindheit ihr Unwesen zu treiben drohen und die Bilder schließlich ein unheilvolles Eigenleben entwickeln, nimmt der Wahnsinn vollends seinen Lauf …

Mir hat dieses Buch unheimlich gut gefallen, was ich anfangs gar nicht erwartet hatte. Aus der Ich-Perspektive erzählt Edgar Freemantle seine Erinnerungen. Ein schwerer Unfall, den er nur wie durch ein Wunder überlebt hat, reißt ihn aus seinem erfolgreichen Unternehmerleben. Seine Ehe geht zu Bruch und eigentlich hat er nach seiner Reha nur einen Gedanken, sich selbst zu töten. King schreibt Edgar als absolut gigantische Figur. Man folgt jedem seiner Schritte, seiner Wut, seiner Verzweiflung und seiner Angst. Auch seiner Hoffnung und seiner Selbstreflektion. Ich mochte das Buch kaum aus der Hand legen, so mitgerissen hat es mich. Dabei passiert eigentlich gar nicht soviel. Es dauert eine Weile, bis Edgar auf Duma-Key ankommt und wirklich das Malen anfängt. Seine einzigen Nachbarn sind die alte Dame Elizabeth Eastlake und ihr Betreuer Wireman. Und auch hier dauert es etwas, bis Edgar in der Lage ist, bei seinen Strandspaziergängen endlich bei den Beiden anzukommen. Hier ist besonders der Fortschritt und der Kampfeswille, den Edgar an den Tag legt, bewundernswert, denn zu Fuß unterwegs zu sein kostet ihn besonders am Anfang wahnsinnig viel Kraft. Mit Wireman entwickelt sich ab da eine wunderbare Freundschaft und Edgar ist schon bald regelmäßig bei ihm zu Gast. Dabei kümmert er sich mit Wireman zusammen um Elizabeth, die an Alzheimer leidet und an hellen Tagen eine wunderbare Persönlichkeit durchschimmern lässt. Immer mehr zieht die Insel Edgar in ihren Bann. Das Malen entwickelt sich zu einem Ventil. Wenn sein verlorener Arm juckt, stürzt sich Wireman wie besessen in die Malerei und immer mehr wird für den Leser erkennbar, dass die Insel ihre schrecklichen Erinnerungen durch ihn ausdrückt.

Eigentlich sind alle Figuren, die King hier beschreibt, einfach wunderbar mit Worten gezeichnet. Neben Wireman und Elizabeth ist da noch der junge Jack, der sich etwas Geld dazu verdient, indem er Edgar umherfährt, seine Einkäufe und sonstige Dinge erledigt. Dabei wird auch er ein Teil der Geschichte und ist sehr bald mit den Ergeignissen verstrickt. Besonders gefallen hat mir Edgars Beziehung zu seinen beiden Töchtern. Man sagt ja immer, alle Eltern lieben ihre Kinder gleich, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich im Laufe des Lebens eine engere Bindung mit einem Kind entwickelt als mit dem anderen. Einfach weil die Persönlichkeit jedes Menschen einzigartig ist und man mit manchen eben mehr auf einer Wellenlänge liegt als mit anderen. Edgars Zwiespalt ist da sehr deutlich. Seine Tochter Illy ist definitiv diejenige, mit der schon immer eine engere Bindung hatte. Die Beziehung mit seiner Tochter Melinda ist eher distanziert. Sicherlich liebt er beide Töchter gleich wie es Eltern nunmal tun, aber mit Illy hat einen Draht, den er mit Melinda nicht hat. Er reflektiert sehr oft darüber. Und bei seiner Exfrau Pam ist es nicht anders. Auch sie hat unterschiedlich enge Beziehungen zu ihren Töchtern. Enger mit Melinda, distanzierter mit Illy. Ich fand das sehr erfrischend zu lesen.

Und während Edgar malt und die Geschichte genau wie seine Bilder immer mehr Gestalt annimmt, bleibt die Spannung bis zum Schluss erhalten und der Kampf gegen die Geister der Insel beginnt.

Sicherlich kann man sich wie immer über die Länge des Buches streiten. Waren knappe 900 Seiten wirklich nötig? Vielleicht nicht, aber für mich waren es 900 spannende Seiten mit Figuren, die mir ans Herz gewachsen sind. Eigentlich ein Wunder, dass ich das Buch noch nicht früher gelesen habe. Definitive Leseempfehlung.

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